Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten by Wolf Christa

Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten by Wolf Christa

Autor:Wolf, Christa
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2016-03-14T16:00:00+00:00


1

Die Figur des Eumelos in Wolfs Kassandra-Erzählung errichtet als Oberhaupt der Palastwache in Troja ein umfassendes Überwachungssystem nach innen. Wellm spielt damit in seinem Brief vom 7. ‌1. ‌1987 (in: CWA 2172) auf die DDR-Staatssicherheitsbehörde an.

2

Der Roman Morisco (Berlin/Weimar 1987) ist das letzte größere Werk Wellms.

257 An Elisabeth Lenk, Neustadt [am Rübenberge]

[Berlin,] den 1. Februar 87

Liebe Elisabeth,

Dein Brief ist sehr anregend für mich und trifft einige wichtige Punkte, an denen ich auch herumlaboriere.1 Zum Beispiel dieses Auseinanderreißen, die Polarisierung von Gut und Böse, das absolute Gegenüberstellen der »Guten« und der »Bösen«: Ich mache mir viel Gedanken darüber. In der letzten Woche habe ich einen kleinen Text geschrieben (für das ZEIT-Magazin, wo er sicher in den nächsten Wochen in einer Reihe »100 Kunstwerke«, betrachtet durch »Künstler«, erscheint) über eine dieser ganz frühen Frauen- oder Göttinnenstatuen, die mir letztes Frühjahr im Nationalmuseum zu Athen großen Eindruck gemacht hat.2 Ich habe nochmal über diese ganzen Traditionen nachgelesen und war besonders fasziniert davon, daß in dieser Frühzeit »Gut« und »Böse« im Schoße dieser Göttinnen noch vereint waren: Sie waren Liebes-, Fruchtbarkeits- und Todesgöttin, in einem jährlichen Ritual »starb« der Priester-Sohn nach dem Beischlaf mit ihnen und wurde nach diesem »Todesschlaf« wiedergeboren. Das war eine Zeit, in der der Tod noch nicht Destruktion, nicht das absolut Böse war wie dann später, als die destruktiven Züge sich den konstruktiven, produktiven gegenüberstellten, sich von der Persönlichkeit abspalteten …

Einiges darüber findet man bei Erich Fromm in »Anatomie der menschlichen Destruktivität« (RORORO), anderes bei Hans Mayer in dem wirklich bedeutenden Essay »Außenseiter«, wo es ja um die Ausgrenzung des als monströs empfundenen »Andersartigen« in der Neuzeit geht. Ich finde auch nicht uninteressant die Überlegungen von Marlis Gerhardt in »Stimmen und Rhythmen« (Luchterhand).3

Was ist eigentlich »das Böse«? Wer definiert es jeweils? Wie hat es sich verändert? Ist heutzutage der gute alte Mephisto noch ein Zeichen für »das Böse«? (Ich habe in meinem letzten Text, diesem »Störfall«, das Thema auch umkreist, unter anderem unter dem Gesichtspunkt, der mir zu einer wirklichen Bedrängnis geworden ist: Wo liegt mein Anteil am »Bösen« unserer Tage?)

Damit zusammen hängt, glaube ich, meine Schwierigkeit, mich meiner neuen, größeren Arbeit wirklich auf dem Papier zu nähern. Im Geiste arbeite ich andauernd daran, es verändert sich andauernd, Dein Brief läßt mich denken, daß ich wahrscheinlich nicht fertigbringe, wirklich zu schreiben, was ich da schreiben muß, solange ich gewisse Teile meiner eigenen Vergangenheit als »böse« betrachten muß und nicht ohne Scham und Reue annehmen kann. Da würde mir wahrscheinlich auch keine Traumform helfen. Was die Form angeht, schwanke ich zwischen der Entscheidung, aufgrund vorhandenen Materials zu erfinden (»fiction« zu machen), oder aber autobiografisch vorzugehen. Der Inhalt aber, der Kern des Sujets wäre ja die Erfahrung der fehllaufenden Frauen-Emanzipation in diesem Jahrhundert, die den Frauen erlaubt, dasselbe zu tun wie die Männer, und damit gut – eine Erfahrung, die ich nun wirklich am eigenen Leib gemacht habe, zunächst sogar gutgläubig.

Eigentlich müßten wir uns mal ein paar Tage Zeit nehmen, um über solche Fragen und Stoffe und Erfahrungen zu reden.

Wie interpretierst Du zum Beispiel die Tatsache, daß die avantgardistischen Zirkel dieses Jahrhunderts (und des ausgehenden 19.



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